Burn-out Syndrom

Die kollektive Erschöpfung der Leistungsgesellschaft

Bis zur Mitte des 20. Jh. waren die gesellschaftlichen Normen vor allem begrenzend und klare, traditionell verankerte Rollen zuweisend. Persönliche Freiheit und eigene Möglichkeiten waren durch diese Normen stark limitiert, soziale und geographische Mobilität kaum gegeben. Wer als Hafermus essender Bauer im Zürcher Weinland geboren wurde, der starb als Hafermus essender Bauer im Zürcher Weinland. Der einzelne hatte sich dem politischen, sozialen und religiösen Gefüge des Kollektivs unterzuordnen. Es handelte sich um eine Disziplinargesellschaft, deren zentrale Botschaft an das Individuum lautete: «Nein, du darfst nicht…». Im Konflikt zwischen eigenen Bedürfnissen und den religiösen, familiären und gesellschaftlichen Limiten wurden unerlaubte Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse oder Handlungen unterdrückt oder nur mit Schuldgefühlen gelebt. Die Neurose war die psychiatrische Erkrankung der Epoche und Psychotherapie darauf ausgerichtet, abgespaltene Strebungen aus dem Dunkel des Unbewussten ins Licht des Bewusstseins zu holen. Wilhelm Reich stellte als erster den Körper als Instrument dieses Abspaltungsprozesses ins Zentrum seiner Arbeit. Er verstand unter «Charakterpanzer» eine körperliche Strategie, überfordernde Gefühle vom Bewusstsein fernzuhalten und Ambivalenzen auszuschalten. Basierend auf Reichianischem Energiemodell, Ausdruckstanz und Bewegungstherapie erweiterte die Körperpsychotherapie die Befreiung blockierter Energie um nonverbale Techniken wie Gewahrsein, Atmung, Bewegung, Berührung, Tönen, szenisches Arbeiten. «Loose your head, come to your senses» charakterisiert den ausdrucksorientierten, kathartischen Fokus der jungen Körperpsychotherapie. Die therapeutisch zu erarbeitende Botschaft lautete: «Du darfst sein, wer du bist! Du darfst mehr sein, als dir von aussen und innen erlaubt wird. Du bist liebenswert mit allem was du bist.»

In den letzten 50 Jahren haben Emanzipation und Demokratie zu einer bisher nie gekannten Souveränität und Autonomie des Individuums geführt. Heute vermitteln uns Gesellschaft und Medien, insbesondere auch die sozialen Medien, es sei alles möglich: jeder könne erfolgreich, reich, schön, glücklich und gesund sein. Soziale, geographische, berufliche und religiöse Begrenzungen sind durchlässiger geworden. Dies hat dem Individuum mehr Freiheiten gebracht, aber auch zur Vereinzelung geführt. In der heutigen Leistungsgesellschaft liegen Erfolg, Gesundheit und Glück in der Initiative und Verantwortung des Individuums. Sozialer und beruflicher Erfolg sind somit nicht nur Möglichkeit, sondern Pflicht, ein eigentliches unternehmerisches Projekt. Die Leistungsgesellschaft verführt uns mit der Verheissung unbegrenzter Möglichkeiten: «Ja, du kannst…». Doch wir scheitern an der Divergenz zwischen dem vermeintlich Möglichen und unseren persönlichen Begrenzungen.

Während die Disziplinargesellschaft Neurotiker erzeugte, schafft die Leistungsgesellschaft Versager, Ausgebrannte und Depressive. Leitsymptom ist ein Gefühl der Minderwertigkeit und Unzulänglichkeit. Therapeutisch reicht hier ein rein kathartisch-ausdrucksorientierter Ansatz nicht aus. Es geht auch darum, sich mit den eigenen Begrenzungen akzeptieren und lieben zu lernen, good enough sein zu dürfen statt perfekt. Wieder ist die zentrale Botschaft die Erlaubnis: «Du darfst sein, wer du bist.» Doch während der Neurotiker in der Therapie lernt, dass er mehr sein darf, als er sich bisher erlaubt hat, lernt der Ausgebrannte, dass er weniger sein darf, als er bisher von sich gefordert hat. «Du bist liebenswert, mit allem was du nicht bist und nicht kannst.»

Ganzheitliche Therapie des Burn-out-Syndroms

Ein körperpsychotherapeutischer Ansatz eignet sich besonders für die Therapie des Burn-out-Syndroms, welches alle Dimensionen des Erlebens (Körper, Emotionen und Kognitionen) beeinträchtigt. Zu Beginn der Therapie geht es oft primär um Erholung, Stabilisierung und Distanzierung. In der Arbeit mit dem vegetativen Nervensystem lernen Patienten, den Unterschied zwischen Aktivierung und Entspannung zu spüren. Die Atmung kann als Tor zum vegetativen Nervensystem genutzt werden, denn Veränderung der Atemfrequenz und der Atemtiefe beeinflussen dessen Aktivierung. Bei aufmerksamer Wahrnehmung kann man spüren, dass der Herzschlag sich während der Einatmung etwas beschleunigt und bei der Ausatmung verlangsamt. Die Verlängerung der Ausatmung wirkt darum beruhigend. So lernen die PatientInnen einerseits ein Gespür für ihr Aktivierungsniveau zu entwickeln und andererseits die Aktivierung zu beeinflussen. Ein hoher Sympathikotonus, also hohe Aktivierung, kann sich eng anfühlen und mit körperlichen Blockaden verbunden sein, z.B. wenn wir auf die Zähne beissen. Hoher Sympathikotonus kann sich aber auch weit anfühlen und mit einem Gefühl von frei fliessender Energie verbunden sein, z.B. bei Begeisterung oder sexueller Erregung. Diesen Unterschied kennenzulernen, ist wichtig, damit die PatientInnen nicht beginnen, Sympathikotonus generell zu meiden. Weitere IBP Werkzeuge zur Regulation der vegetativen Aktivierung sind Erdungs- und Zentrierungsübungen, Selbstentspannungstechniken und die ondulierende Atemwelle. Viele dieser Übungen eignen sich als tägliche Praxis zur Reduktion der Grundaktivierung und ebenso als Notfallübung in Belastungssituationen.

Tägliche Bewegung über ein den Kreislauf leicht aktivierendes Training sowie Aktivierung bestehender Ressourcen gehören ebenfalls in die Anfangsphase einer Burnout-Therapie. Es ist wichtig, bestehende Ressourcen zu erkennen, wertzuschätzen und zu nutzen. Die Arbeit mit Eigenraum und Grenze kann schon früh im Therapieverlauf eingesetzt werden, um Präsenz, Selbstkontakt und die Fähigkeit zur Abgrenzung zu fördern.

Im Verlauf wird daran gearbeitet, emotionale und körperliche Stresssignale, deren Trigger und die eigenen Stressverstärker kennen zu lernen. Letztere umfassen beispielsweise ausgeprägte Leistungsorientierung, Verausgabungsbereitschaft, Perfektionismus, Orientierung an den Bedürfnissen anderer, hohe Kränkbarkeit, geringes Containment für Dissonanzen, mangelnde Selbstfürsorge, Vernachlässigung von persönlichen Ressourcen und Werten. Im Alltag diese hinderlichen Muster wahrzunehmen und durch Distanzierungstechniken oder Achtsamkeitspraktiken zu relativieren ist oft ein langer Weg. Häufig ist es in dieser Phase hilfreich, Zusammenhänge mit der eigenen Herkunftsgeschichte zu explorieren und mit jüngeren Selbstanteilen zu arbeiten. Es geht dabei um die Entwicklung einer liebevollen Beziehung mit sich selbst, insbesondere auch mit den eigenen Unzulänglichkeiten. Als IBP TherapeutInnen unterstützen wir die Entwicklung von Selbstwahrnehmung, Selbstakzeptanz, Selbstmitgefühl und nachhaltige Selbstfürsorge mit körper- und ausdrucksorientierten Interventionen: Gewahrsein, Blickkontakt, Atem, Berührung sowie das Verkörpern und Bewegen des eigenen Erlebens sind zentrale Gestaltungselemente.

Oft erleben Betroffene ihr Burnout auch als Sinnkrise, welche existentielle Fragen aufwirft: Was definiert meine Identität? Was macht mein Leben sinnvoll? Entspricht mein Lebensentwurf meinen Werten? Wie gehe ich mit meiner eigenen Begrenzung um? Diese Fragen aktiv anzusprechen und auch den Raum für die spirituelle Dimension offen zu halten erleben Patienten oft als sehr unterstützend.

Anhand einer Fallvignette möchte ich die bisherigen Ausführungen verdeutlichen: Eine 52-jährige Patientin, kaufmännische Verwaltungsangestellte, ist aufgrund einer Burn-out-Symptomatik in Therapie. Die Wiedereingliederung an ihren alten Arbeitsplatz ist wegen anhaltend reduzierter emotionaler und physischer Belastbarkeit und Geräuschempfindlichkeit nicht gelungen. Sie ist seit über einem Jahr arbeitslos. Während dieser Zeit hat sie sich in der Therapie mit ihren persönlichen Werten und Bedürfnissen auseinandergesetzt, was zu einem Freiwilligenengagement in verschiedenen sozialen Institutionen geführt hat. Als Burn-out-gefährdende Persönlichkeitsmerkmale imponieren Perfektionismus, grosse Angst, Fehler zu machen, fragiler Selbstwert mit hoher Kränkbarkeit sowie ein unsicher-ambivalentes Bindungsmuster. Seit kurzem arbeitet sie in einem Atelier, welches Tagesstruktur und Beschäftigung für Suchtpatienten anbietet. Sie erzählt in der Therapiestunde von einer schwierigen Interaktion mit einer Klientin. Diese habe sie in sehr harschem Ton herumkommandiert («Bring mir die Schere! Wo ist der rote Stoff?»), ihre Hilfe und Ratschläge vehement abgelehnt («Nein, ich will das auf meine Art machen!») und gleichzeitig signalisiert, dass sie meine Patientin am liebsten die ganze Zeit neben sich sitzend hätte. Im szenischen Darstellen und Nachempfinden der Episode erkennt die Patientin, dass sie ob dem rauen Tonfall innerlich erstarrt. Sie empfindet ähnlich wie als Kind in der Beziehung mit ihrer fordernden und entwertenden Mutter, erlebt sich in der Ohnmacht und ihre Klientin in der Macht. Ich fordere sie auf, in die Rolle der Klientin zu schlüpfen. Dies ist für sie unvorstellbar: So könne sie sich nicht aufführen. Nach einer körperöffnenden und Ladung aufbauenden Bewegungs- und Atemübung gelingt es ihr jedoch zu ihrer eigenen Überraschung recht gut und sie erlebt die trotzig fordernde Selbstbestimmung als kraftvoll. Es taucht das Bild eines etwa vierjährigen Mädchens auf, welches seine Umwelt erforschen und gestalten will, etwas was ihr nie erlaubt worden sei. Wir beginnen mit den Polen Bindung und Exploration zu spielen: Ich biete der Patientin meine Hände als sichere Basis an, als Andockstelle, wo sie sich verankern oder sich lösen und die Umgebung erkunden kann. Sie spürt Unsicherheit im Berührungskontakt und hat rasch den Impuls, den Raum zu erkunden. Ich halte meine Hände weiter als Basis für sie bereit, folge ihr mit dem Blick und lasse sie wissen, dass ich weiterhin als sichere Andockstelle für sie da bin. Sie erlebt meinen Blick als kontrollierend und verunsichernd. Ich lade sie ein, sich in meinem Rücken zu bewegen. Das entlastet, sie fühlt sich sofort viel freier. Ich höre, wie sie im Raum umhergeht, verschiedene Gegenstände untersucht und schliesslich ein Balancekissen nimmt, um darauf zu balancieren. Plötzlich kommt sie mit dem Kissen vor mich hin, stellt sich darauf und sagt strahlend: «Jetzt will ich Ihnen zeigen, was ich kann!».

In der Nachbesprechung können wir das Geschehene in die ihr bekannten Muster einordnen: die Verunsicherung im gesehen werden, die Angst nicht zu genügen und Fehler zu machen, der Wunsch, erst dann sichtbar zu werden, wenn sie etwas beherrscht. Gleichzeitig spürt sie, wie sie gegenüber ihrer Klientin nun eher Interesse und Neugier als Ärger verspürt und deren Verhalten mit Humor begegnen kann. Am nächsten Arbeitstag reagiert sie auf ihre Kommandos mit: «Nicht wahr, du wolltest sagen: Bitte, wärst du so nett und würdest mir die Schere bringen?»

Unbehagen bei Augenkontakt ist ein häufiges Phänomen bei Menschen mit hohen Selbstansprüchen und der Angst, Fehler zu machen. Sie erleben den Blick des Gegenübers als abschätzend und all ihre Mängel entdeckend. Gesehen zu werden ist dann nicht nährend und haltend, sondern schambesetzt. Das ist ein Zeichen für eine unsichere Bindung. Interventionen wie im Beispiel können helfen, auf spielerische und körperliche Weise die therapeutische Beziehung zur Relativierung und Erweiterung bisheriger Muster zu nutzen.

Als Therapeutin erlebe ich in der Begleitung von Burnout-PatientInnen immer auch selbst Gefühle der Ohnmacht und Frustration, wenn ich höre, welchem Druck die Menschen am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft ausgeliefert sind. In der Schweiz hat die Produktivität pro Arbeitsstunde seit 1960 um 255% zugenommen. 40% der Arbeitnehmer arbeiten auch am Abend, 25% manchmal oder regelmässig an Sonntagen. 34 % der Schweizer Erwerbsbevölkerung fühlen sich häufig oder sehr häufig gestresst. Diese Zahlen zeigen deutlich, dass es nicht reicht, einfach nur beim Individuum anzusetzen, sondern dass Veränderungen in der Gesellschaft und Wirtschaft nötig sind, wenn wir die Inzidenz des Burn-out-Syndroms senken möchten. Ich sehe es als Notwendigkeit, dass wir Psychotherapeuten nicht nur den einzelnen Menschen behandeln, sondern uns auch mit der Frage auseinandersetzen, wie wir Einfluss auf den kollektiven Leistungswahn nehmen können.

Eva Kaul
Dr. med., IBP Lehrbeauftragte, in eigener Praxis in Winterthur tätig

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